Unbesehen

Willkür und Härte deutscher Abschiebepolitk

In Bremerhaven versuchte eine Frau angesichts der drohenden Abschiebung durch Mitarbeitende der Ausländerbehörde und der Polizei sich das Leben zu nehmen.
Die Beamten standen am frühen Morgen unangekündigt vor der Haustür der 45-jährigen Mutter und ihren zwei Söhnen, um die Abschiebung nach Albanien durchzusetzen. Ihr Asylantrag war bereits abgelehnt worden, doch bis dato waren nicht alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft. Auch war den Behörden bekannt, dass die in der Seestadt
schutzsuchende Frau unter PTBS, also einer posttraumatischen Belastungsstörung, litt und sich in Behandlung befand. Ein Amtsarzt, der ihre gesundheitliche Situation zu prüfen hatte, bestätigte zwar in seiner Stellungnahme, dass die Frau suizidgefährdet sei.

Eine »Reiseunfähigkeit« bzw. ein Abschiebehindernis entstand dadurch aus Behördensicht jedoch nicht. Stattdessen wurde angeregt, die Abschiebung ärztlich begleiten zu lassen. Doch dazu kam es nicht. Auch der Flüchtlingsrat Bremen hat diese Vorgehensweise scharf kritisiert, zumal die Vorgehensweise der Behörden im Land Bremen bereits in der Vergangenheit in der Kritik stand. So wurden 2010 z.B. Ärzt*innen aus anderen Bundesländern beauftragt, um die für eine Abschiebung notwendige Reisefähigkeit bei Geflüchteten in Bremen festzustellen. In der Folge räumte die Behörde öffentlich Fehler ein und es wurde eine verbesserte Verfahrensweise etabliert, die in der Hansestadt nach wie vor gilt. Und in Bremerhaven?

»Die Ausländerbehörde hat eine rote Linie überschritten – eine blutige«,
stellt der Bremerhavener Arbeitskreis Migration und Flüchtlinge in einer öffentlichen Stellungnahme fest.

Hier wiederholt sich eine mindestens fahrlässige Verfahrensweise. Die Begutachtung der Frau im März 2017, wie üblich von der Ausländerbehörde beauftragt, erfolgte durch den zuständigen Arzt beim Gesundheitsamt Bremerhaven nur nach Aktenlage – also ohne eine persönliche Untersuchung der betroffenen Frau. Wieso?
Die Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz antwortete im Juni 2017 diesbezüglich auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke. Das Gesundheitsressort bestätigte, dass anders als in Bremen »auf Grund des erheblichen Umfanges von Anfragen der Ausländerbehörde zu Reisefähigkeiten« in Bremerhaven eine Begutachtung nach Aktenlage stattfinde. Vordergründig wird also Personalmangel als Grund für die Vorgehensweise in Bremerhaven genannt.

»Die Neuregelung untergräbt da s Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« (Pro Asyl)

Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass mit dem unlängst verabschiedeten Asylpaket II nur noch »lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden« als Abschiebehindernis gelten. Gemeint sind körperliche Erkrankungen; nicht gemeint sind psychische Erkrankungen oder posttraumatische Belastungsstörungen. (www.proasyl.de/hintergrund/asylpaket-ii-in-kraft-ueberblick-ueber-die-geltenden-asylrechtlichen-aenderungen/)
Ferner hat das Bundesinnenministerium im Frühjahr 2017 Allgemeine Anwendungshinweise zur Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG (AAH) veröffentlicht. Darin wird Personen mit psychischen Erkrankungen unterstellt, »asyltaktisch behauptete Ankündigung suizidaler Absichten« für einen Abschiebeschutz zu nutzen. Daher sei ihnen keine Duldung zu erteilen.
Der deutsche Anwaltsverein kommentiert: »Der in den AAH aufgestellte Kriterienkatalog für den Inhalt einer qualifizierten Bescheinigung schießt deutlich über die Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts hinaus.« (Anwaltsnachrichten Ausländer- und Asylrecht, Heft 3, 2017) Diese Anwendungshinweise sind zwar rechtlich nicht bindend, doch sie haben einen starken Aufforderungscharakter und wurden bundesweit an die Ausländerbehörden und Migrationsämter verschickt. Auch nach Bremen und Bremerhaven. Werden also nur bundesgesetzliche Regelungen umgesetzt? Die Antwort ist: Nein.

In Bremerhaven wie in Bremen müssen Standards gelten, die Schutzsuchende schützen – insbesondere auch vor den Taten aller für Abschiebungen verantwortlichen Behörden.

Die in Bremerhaven mehr als einmal getätigte Vorgehensweise, eine Begutachtung nach Aktenlage, ist definitiv kein Teil der Gesetzgebung oder Anwendungshinweise. Es ist eine zu Ungunsten der Betroffenen gewählte Praxis. Denn die zu verfassende Stellungnahme des zuständigen Arztes wird an die Ausländerbehörde weitergeleitet. Hier wird dann die Entscheidung über eine mögliche Abschiebung gefällt – mit den bekannten, lebensgefährlichen Konsequenzen. Die Entscheidung nach Aktenlage birgt ein hohes Risiko, denn daraus resultiert das Risiko für eine Eigen- oder Fremdgefährdung bei der Abschiebung: Vorliegende Erkrankungen können – nach Aktenlage entschieden – nicht vollständig bzw. eine Verschlimmerung im zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebebedrohung oftmals gar nicht erkannt werden. Stellungnahmen nach Aktenlage können zum Beispiel auf älteren Attesten oder unvollständigen Akten basieren und eine akute Abschiebebedrohung unberücksichtigt lassen. Auch sind ein direktes Gespräch, ggf. mit Sprachmittler*innen, und die persönliche Inaugenscheinnahme für eine qualifizierte Stellungnahme des (ebenfalls qualifizierten) Arztes unverzichtbar. Dies besagen im übrigen auch die langjährig bewährten landesspezifischen Bremischen Grundsätze des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) zur Begutachtung.
Nachdem der Vorfall seit März öffentlich und politisch diskutiert wurde, hat die Bremer Gesundheitssenatorin, Eva Quante-Brandt, eine einheitlich qualifizierte Praxis der Begutachtungen in Aussicht gestellt. »Es besteht Einvernehmen, dass die Verfahren in Bremen und Bremerhaven nach vergleichbaren Kriterien durchgeführt werden sollen. Die Fachaufsicht der senatorischen Dienststelle prüft noch, ob hierzu eine fachliche Weisung erforderlich ist, damit künftig eine persönliche Begutachtung von erkennbar suizidgefährdeten Geflüchteten sowohl vom GA Bremen als auch vom GA Bremerhaven vorgenommen wird.« (Antwort der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz auf Berichtsbitte der Fraktion Die Linke vom 18.9.2017)

Wir erwarten und setzen uns weiterhin dafür ein, dass gesundheitliche Abschiebehindernisse und psychische Erkrankungen sowie Traumatisierungen oder PTBS von den zuständigen Behörden angemessen qualifiziert untersucht und beurteilt werden. In Bremerhaven wie in Bremen müssen Standards gelten, die Schutzsuchende schützen – insbesondere auch vor den Taten aller für Abschiebungen verantwortlichen Behörden. Der Abschiebeversuch im März 2017 wurde nach dem Suizidversuch abgebrochen und die betroffene Frau begab sich am selben Tag in stationäre psychiatrische Behandlung. Nach einer erneuten Prüfung der Aufenthaltssituation, insbesondere der gesundheitlichen Verfassung der Frau, ist nun mit einem humanitären Aufenthalt zu rechnen. (Winter 2017)


Infos:
Die sozialmedizinischen Dienste der Gesundheitsämter in Bremen und Bremerhaven (Öffentlicher Gesundheitsdienst – ÖGD) nehmen im Falle einer Kontaktierung durch die
Ausländerbehörden grundsätzlich die Aufgabe für Begutachtungen gesundheitlicher Gründe wahr, die einer Abschiebung entgegenstehen könnten.