Androhung und Anwendung von Gewalt im Kontext der
vorläufigen Inobhutnahme durch das Jugendamt Bremen

Stellungnahme zum Bericht der Senatorin vom 12.02.2020 an die Deputation für Soziales, Jugend und Integration

Der Flüchtlingsrat Bremen hat im Januar 2020 die Androhung und Anwendung von Gewalt durch das Jugendamt Bremen öffentlich verurteilt und die Kritik ausführlich dargelegt. Am 13.02.2020 legte die Senatorin für Jugend der zuständigen Deputation einen Bericht dazu vor, der die Beibehaltung der kritisierten Praxis rechtfertigen soll.

Der Bericht führt an vielen Stellen in die Irre – wir nehmen Stellung und klären auf.

Zusammenfassung
Der Bericht will die Mitglieder der Deputation Glauben machen, Gewalt werde nur nach sorgfältiger Abwägung als Ultima Ratio angewendet und dies sei rechtmäßig, weil unverzichtbar.

Es liegen inzwischen mehrere ausführliche fachliche Stellungnahmen und Gutachten ausgewiesener Expert*innen vor, die ausdrücklich das Gegenteil belegen (siehe unten). Die Senatorin stützt Ihre Rechtsauffassung auf eine kurze, öffentlich nicht zugängliche Mitteilung aus dem BMFSF, welche sie unvollständig wiedergibt. Uns sind außerhalb Bremens keine Jugendämter bekannt, die die „Fesselung von Händen und Füßen“ anweisen, um Zuweisungsbescheide anderer Behörden durchzusetzen.

Das Vorgehen des Jugendamtes deutet eher auf ein rücksichtsloses „Trial and Error“-Verfahren hin als auf sorgfältige Abwägung (Konkret: Rücknahme der Verteilung erst nach der Anwendung von Gewalt wegen mangelnden rechtlichen Gehörs; Bezeichnung der Weigerung eines Jugendlichen, der sich seit fast 5 Monaten in Bremen aufhielt und die Schule besuchte, als „sachgrundlos“; Ankündigung, die Anwendung von Zwang beizubehalten, diese aber zukünftig anders zu begründen).

Wir fordern die Deputation erneut dazu auf, für eine Verwaltungsanweisung zu sorgen, die die Anwendung von Gewalt in diesem Kontext durchgehend ausschließt, da diese unverhältnismäßig ist, gegen das Gewaltverbot verstößt und Grundrechte der Betroffenen verletzt.

Im Einzelnen kommentieren wir die Position des Sozialressorts (die ab Seite 3 des Berichts dargelegt wird) wie folgt:

Zu Seite 3 Absatz 3 des Berichts der Senatorin „Regelungsintention“
Die wichtigsten Regelungsabsichten der Gesetzgebung im SGB VIII sind der Schutz, die Unterstützung und die Schaffung positiver Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche (§ 1 Abs. 1 und 3 SGB VIII). Das von der Senatorin genannte Regelungsinteresse der Zuweisung (in § 42 b SGB VIII) ist dem nicht nur untergeordnet, sondern darf dazu auch nicht in Widerspruch gebracht werden. Es ist selbst nur insoweit zulässig, als es dem Grundprinzip der Orientierung am Kindeswohl dient.

Zu Seite 3 Absatz 4 des Berichts der Senatorin „Keine Verpflichtung zum ständigen Aufenthalt am Zuweisungsort“
Die Anwendung von Zwang ist u.a. deshalb unverhältnismäßig, weil mit der Zuweisungsentscheidung keine Verpflichtung verbunden ist, sich ständig am zugewiesenen Ort aufzuhalten. Nach Beendigung der Fesselung können die betroffenen Jugendlichen ungehindert und rechtmäßig wieder nach Bremen zurückkehren. Dies passiert auch regelmäßig aus jeweils guten Gründen. Die Anwendung von Gewalt ist daher ungeeignet und somit unverhältnismäßig.

Sollte die Senatorin dies ernsthaft in Frage stellen, so müsste sie konsequenterweise für rechtmäßig halten, dass die Jugendlichen am zugewiesenen Ort auch dauerhaft zwangsweise festgehalten werden. Es handelt sich hier aber schlichtweg nicht um die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung.

Auch der von der Sozialbehörde angeführte § 12 a Abs. 1a AufenthG ist hier komplett irrelevant, denn dieser regelt die Wohnsitzverpflichtung (also den Ort der Wohnsitzanmeldung) und nicht etwa eine ständige Aufenthaltsverpflichtung von Erwachsenen .

Das Aufenthaltsbestimmungsrecht der gesetzlichen Vertretung gilt. Jedoch wurde in den diskutierten Fällen kein Vormund bestallt. Eine Bestimmung des Aufenthaltes durch die Notvertretung lag nicht vor, da diese nicht beteiligt wurde.

Nicht zuletzt wäre es offenkundig unsachgemäß, den Aufenthaltsort von 16-jährigen Schutzbedürftigen derart eng beschränken zu wollen, dass es einer geschlossenen Unterbringung gleichkäme.

Zu Seite 3 Absatz 5 des Berichts der Senatorin „Geeignete Person“
Ein Leitfaden des Ressorts selbst definiert eine „geeignete Person“ im Sinne des § 42 SGB VIII als eine „Vertrauensperson des Kindes oder des/der Jugendlichen“ (Leitfaden für das Verteilverfahren umA in der Jugendhilfe, 08 /2018, Seite 13). Dabei kann es sich nicht um eine Person handeln, die Hand- und Fußfesseln anlegt oder dies anordnet oder dies überwacht.

Zu Seite 3 Absatz 6 des Berichts der Senatorin Falsche Bescheidbegründung
Die Anwendung von Hand- und Fußfesseln könnte selbstverständlich im SGB VIII nur dann überhaupt in Betracht kommen, wenn behauptet wird, sie liege im Interesse des Kindeswohls (s.o.). Genau so sind die bisherigen, uns vorliegenden Bescheide auch schriftlich begründet – wenn auch ohne weitere Ausführungen dazu, inwiefern die „Fesselung von Händen und Füßen“ das Kindeswohl schützen könnte.

Die Behauptung der Senatorin, das Kindeswohl werde nicht zur Begründung angeführt, ist also nachweislich falsch. Richtig ist allerdings, dass es keine geeignete Begründung ist: Die Fesselungen sind ein offensichtlicher Verstoß gegen die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls.

Inzwischen hat der zuständige Mitarbeiter im Ressort fachöffentlich mitgeteilt, die Bescheide seien falsch begründet worden, dies würde zukünftig geändert. Nach unserer Kenntnis haben die betroffenen Jugendlichen jedoch keine Abänderungsbescheide erhalten.

Ist die Senatorin der Meinung, die Begründung für eine Entscheidung könne beliebig ausgetauscht werden, ohne dass dies die Entscheidung selbst tangiert?

Zu Seite 3 Absatz 7 des Berichts der Senatorin
Vorrang des Kindeswohls und Beteiligung der Jugendlichen als Vollzugshindernisse?
Wenn man dem Gutachten des „Deutschen Vereins“, unserer Kritik und den weiteren vorliegenden juristischen Stellungnahmen folgt, kommt man zunächst zu einer sachgemäßen Anwendung der Grundprinzipien des SGB VIII. Eine Rechtsgrundlage für die Anwendung von Zwang ist nicht gegeben. Die Gesetzgebung hat eine nachrangige Verteilung (§ 42b Abs. 2 SGB VIII) gewünscht – aber selbstverständlich nicht um den Preis von Gewaltanwendung.

Die Befürchtung der Senatorin, die Verteilungsregelung sei ohne unmittelbaren Zwang nicht durchsetzbar, wirft ein schlechtes Licht auf die Ausgestaltung der Jugendhilfe und Verteilung. Sie rechtfertigt aber nicht die Anwendung von Gewalt. Die Senatorin argumentiert hier unzulässig nach dem Motto: „Was wir für notwendig halten, muss deshalb auch erlaubt sein“.

Zu Seite 3 Absatz 8 des Berichts der Senatorin Position des BMFSFJ
Die Senatorin bezieht sich auf ein Schreiben aus dem BMFSFJ, das den Mitgliedern der Deputation vermutlich nicht vorliegt. Das einseitige Schreiben wird zwar richtig, aber unvollständig wiedergegeben. Im vorletzten Absatz betont das BMFSFJ, dass die Anwendung von Zwang nur zulässig sein könne, wenn diese geeignet und angemessen sei. Beide Voraussetzungen sind – wie beschrieben – nicht gegeben.

Zudem wird betont, dass die Eingriffsintensität zu beachten sei und daher die „Verwendung von Fußfesseln und Handschellen […] in vielen Fällen unverhältnismäßig“ sein dürfte. Der Aspekt der Eingriffsintensität wurde in der Verwaltungsanweisung nicht gewürdigt: In allen bekannten Fällen, in denen unmittelbarer Zwang angewendet wurde, sind die Jugendlichen gefesselt worden – und nur dies gibt die Verwaltungsanweisung vor (siehe „4) Verfahren bei Amtshilfeersuchen“).

Zu Seite 5 unten des Berichts der Senatorin „Sachgrundlos“?
Die Verwaltungsanweisung und der Bericht sehen Zwangsmaßnahmen vor, wenn Jugendliche sich angeblich „sachgrundlos“ der Verteilung verweigern.

Einige der Sachgründe, die uns betroffene Jugendliche genannt und auch dem Jugendamt mitgeteilt haben, sind:

  • mehrmonatiger Aufenthalt in Bremen (gesetzliche Vorgabe: max. ein Monat)
  • Schulbesuch
  • soziale und emotionale Bindungen an Bezugspersonen in Bremen
  • Angst vor Ausgrenzung, Herabwürdigung, Diskriminierung und rassistischen Angriffen am Zuweisungsort. Vor dem Hintergrund geflüchteter und in vielen Fällen traumatisierter Minderjähriger sind Verweigerungen nicht sachgrundlos. Diese Wortwahl deutet auf Ignoranz und mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Situation der Jugendlichen im Haus der Senatorin hin.

Grundsätzlich:
Insgesamt bezieht sich der Bericht der Senatorin für Soziales, Jugend, Integration und Sport vor allem auf das zitierte Gutachten des „Deutschen Vereins“. Obwohl Teil der öffentlich geäußerten Kritik, bleiben folgende Sachverhalte vollständig unberücksichtigt:

  • Das Bremische Verwaltungsvollstreckungsgesetz kann nicht zur Durchsetzung von Bescheiden anderer Behörden angewendet werden. (§ 1 Abs.1 BremVwVG)Die gesetzliche Frist zur Durchführung der Verteilung beträgt maximal einen Monat. Die regelmäßige Überschreitung dieser Frist durch das Jugendamt Bremen ist durch die bisherige Rechtsprechung zwar gedeckt. Sie steht aber im offenkundigen Widerspruch zur gesetzgeberischen Intention, die Verteilung bei längerem Aufenthalt wegen der entstandenen sozialen Bindungen auszuschließen.Das Land Bremen befindet sich nicht in einer Unterbringungs-Notsituation, sondern verfügt über freie Kapazitäten in der Jugendhilfe.Es gab in den bekannten Fällen – anders als im Bericht behauptet – keine ausführliche Abwägung von Kindeswohlinteressen. Sie findet sich auch nicht in den Bescheiden wieder.Der Bericht stellt die Behauptung auf, die „Fesselung von Händen und Füßen“ sei angesichts der Reife, psychischen Situation und Mitwirkungspflicht zumutbar. Es bleibt offen, wie Personen, denen die Jugendlichen nicht vertrauen, zum Zeitpunkt der vorübergehenden Inobhutnahme zu so belastbaren Erkenntnissen über die Reife und psychische Situation kommen können. Angesichts der hoch belasteten Situation der Jugendlichen ist dies außerdem grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.Überlegungen zur Anrechenbarkeit einer verweigerten Mitwirkung oder der Zumutbarkeit von Fesselungen mögen im Strafrecht üblich sein – in der Jugendhilfe lasse sie selbige zur Farce werden. Wir erwarten von der Deputation für Soziales, Jugend und Integration, dass sie die Senatorin auffordert, die Verwaltungsanweisung folgendermaßen zu ändern:
    „Die Anwendung von unmittelbarem Zwang ist durchgehend ausgeschlossen.“
    Diese Forderung vertreten auch folgende Personen aus der bundesweiten Fachöffentlichkeit: Prof. Dr.iur. Wolfgang Behlert, Hochschule Jena
    Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano / Nele Austermann, Universität Bremen Prof. Dr. Brigitta Goldberg, Ev. Hochschule Bochum
    Prof. Dr. Antje Krueger, Hochschule Bremen
    Prof. Dr. Claus Melter, FH Bielefeld
    Prof. Dr. Nivedita Prasad, Alice-Salomon-Hochschule Berlin
    Prof. Dr. Kirsten Sander, Hochschule Bremen
    Prof. Dr.iur. Thomas Trenczek, Hochschule Jena Es liegen außerdem mehrere juristische Expertisen zur Rechtswidrigkeit und Unzulässigkeit der Verwaltungsanweisung vor, die hier abrufbar sind: https://www.fluechtlingsrat-bremen.de/2020/02/hand-und-fussfesseln-sind-keine-jugendhilfe/